Sinn der Tat

„Palachs Tat ist unerfassbar, über den Standard hinaus. Sie entzieht sich der üblichen ethischen Bewertung. Sie erregt große Emotionen, ruft eine ganze Reihe von Fragen, Polemiken und oft auch gegensätzlichen Bewertungen hervor. Sie wird sowohl verdammt, als auch glorifiziert.“

Jindřich Šrajer (2009)

Seit Januar 1969 vergingen mehr als ein paar Jahrzehnte, trotz diesem fordert die Tat Jan Palachs zum ständigen Nachdenken über die grundsätzlichen Fragen des menschlichen Lebens auf. Eine Reihe von Personen machte den Versuch, Sinn von Palachs Selbstverbrennung auszudeuten, diese traten an die Tat unter verschiedenen Aspekten heran. Oft spiegelte sich darin vor allem die gesellschaftliche Situation der Zeit, die außer anderem die Wahrnehmung der Autoren mitprägte. Ihre konkreten Ausdeutungen werden verständlicherweise von unterschiedlichen religiösen, philosophischen, politischen oder ethischen Ausgangspunkten bestimmt. Die meisten verbindet Suche nach Antworten auf eine grundsätzliche Frage, die in Verbindung mit Palchs Tat entsteht – ob der Mensch über freien Willen verfügt, über sein Leben zu bestimmen und nach seinem Bedenken dieses für andere zu opfern, um sie auf diese Art und Weise zum Erwachen aus ihrer resignierten Haltung gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten zu bewegen und sie zu zwingen sichtbar nach ihrem politischen Vorhaben zu handeln. An einige von denen erinnern wir als an mögliche Wege, die man beim Nachdenken über Palachs Nachlass gehen kann.

Ästhetiker und Kritiker Jindřich Chalupecký sah in den Reaktionen auf Palachs Tat zwei Herantreten. Das eine nahm Tatsachen so, wie sie waren oder sich so zeigten; dieses war emotional, irrational und unmittelbar.

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Die andere Reaktionsweise deutete die Tatsachen im Gegenteil vermittelt und rational aus; es brachte und gab auch Konspirationsausdeutungen zu, einschließlich der angeblichen Verführung eines naiven Jünglings, wie lügenhaft Palachs Tat vom kommunistischen konservativen Politiker Vilém Nový beschrieben wurde. Chalupecký betonte jedoch, dass sich die Reaktionen der Majoritätsgesellschaft auf Palachs Tat in Wirklichkeit auch nach einem Szenario von primitiven Ritualen, in denen die Hauptbedeutung in feierlicher Aufopferung eines unschuldigen Jungen bestand, abspielte. Für Rationalisierung war kein Platz hier. Dies weist auch die angeblich letzte, vom Krankenhaus geschickte Nachricht des verbrannten Jünglings nach. In Wirklichkeit handelte es sich um eine manipulativ aus fast unverständlichen und isolierten Aussprüchen zusammengestellte Feinform, die im Widerspruch zu seinen politischen Überzeugungen stand. Die Teilnehmer des stillen Trauerzugs am 25. Januar 1969 waren deutlich in sich hineingekehrt. Keiner von denen griff die Regierung an, obwohl sie dazu von dem verbrannten Jungen in seinem mit Fackeln Nr. 1 unterschiebenen Brief wörtlich aufgefordert wurden. „Palachs Tat brach den Panzer der modernen Rationalisierung durch und entblößte die tiefen Grundsätze des archaischen Bewusstseins.“ so beschrieb Chalupecký Ursachen von diesem Pardox. Selbstverbrennung in diesem Kontext kann als Tat, die die Kausalität der historischen Ereignisse stört, gesehen werden. Im Vergleich dazu ist Dringlichkeit der alltäglichen politischen Konflikte geringfügig.

Viele der Ausdeutungen von Palachs Tat enthalten religiöse Dimension, die den zeitgenössischen politischen Horizont überschreitet. Diesen nach ist der Sinn dieses Protests nicht nur am unmittelbaren Misserfolg beim Durchsetzen der erhobenen Forderungen oder am Versagen der zeitgenössischen Gesellschaft zu messen, sondern ist dieser vor allem als zeitlose Herausforderung zur vollwertigen Lebenserfüllung wahrzunehmen. Für Philosophen Ladislav Hejdánek wurde signifikant „Palachs Opfer zum Symbol dafür, dass wir unser ganzes Leben zur Verfügung dem stellen sollen, was geschehen soll, was getan werden soll, was zur Besserung der Dinge unternommen werden soll, was zu tun ist für uns umgebende Menschen und für Gemeinde, für menschliche Gemeinschaft“.

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Evangelischer Geistlicher Jakub S. Trojan hielt auf Jan Palachs Beerdigung auf dem Friedhof in Prager Olšany Rede, in der er den begrabenen Studenten an große religiöse Persönlichkeiten wie Johannes Hus, Johann Amos Comenius, Hieronymus von Prag, Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer oder Martin Luther King zuwies. Palachs Protest bezeichnete er als „Tat der reinen Liebe“, die auf immer eine Ermutigung für Müde und eine Herausforderung zur Hoffnung für Schwache sein wird. Gleichartig tritt an Palachs Tat katholischer Priester und Universitätsprofessor Tomáš Halík, der seinen Nachlass als Verpflichtung zur moralischen Integrität und Sich-Nicht-Ergeben vor dem Normalisationsregime wahrgenommen haben will.

Palachs Tat wurde jedoch auch kritisiert und das unter verschiedensten Aspekten. Oft wurde bei Bewertung der Tat betont, dass ihre Form und Folgen angeblich nicht mit den europäischen Traditionen kompatibel seien. Diese hingen meistens mit Ausdeutung vom Selbstmord als einem inakzeptablen Menschenfortgang von der irdischen Welt zusammen.

Auf diese Weise argumentieren zwei kritische Stimmen, die dabei paradoxerweise von unterschiedlichen ideologischen Prämissen ausgehen. Anarchist Ondřej Slačálek lehnte Palachs Tat als Selbstmord, der nicht nachgefolgt werden kann, ab. „Ethische Beurteilung der Taten von Individuen stütz sich in der westlichen Tradition auf deren Nachfolgigkeit“, er betonte damit, dass Palachs Protest nicht als reale Widerstandsform wahrgenommen werden kann.

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Mühe an seinen Nachlass zu erinnern, bezeichnete er als Mühe „sich hinter Leichenikonen zu verstecken. Teilnehmer am Widerstand gegen Kommunismus Josef Mašín lehnte Palchs Selbstverbrennung mit ähnlichen Worten ab, als er den militärischen Aspekt betonte: „Stellen wir uns Militäreinheiten oder Widerstandsgruppen vor, die mit Benzinkanistern ausgerüstet in den Kampf ziehen oder die beauftragt sind, beim Zusammenstoß mit dem Feind sich zu verkrüppeln oder Selbstmord zu begehen.“ Ordenspriester und Salesianer Jindřich Šrajer, der sich mit Palachs Tat unter dem Aspekt der christlichen Ethik befasste, wies allerdings sehr ausführlich nach, dass es sich in diesem Fall um keinen klassischen Selbstmord handelte (auch nicht um einen Fall von Märtyrertum im christlichen Sinne) und betonte die Bedeutung von Palachs Aufopferung für andere. Er erinnerte auch daran, dass sich von seinem Nachlass bis heute viele Menschen weltweit angesprochen fühlen. Zugleich äußerte er auch Zweifel über die Eignung der gewählten Protestform: „In Anbetracht der persönlichen Motivation von Palach und des von ihm formulierten Ideal und in Anbetracht des historischen, kulturellen und politischen Kontextes und der Auswirkung seiner Tat kann festgestellt werden, dass es sich um eine Tat von heldenhafter (vertreterischer) Selbstaufopferung handelt. Seine Tat muss geschätzt werden, jedoch in Hinblick auf Ehrfurcht vor dem Leben kann sie nicht generell empfohlen werden.“

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