Ryszard Siwiec

* 7. März 1909, Dębice

† 12. September 1968, Warschau

An alle Menschen, in denen noch ein Fünkchen menschlichen Gefühls liegt! Rafft euch zusammen! Hört mein Geschrei! Das Geschrei eines grauen, einfachen Menschen, Sohn des Volkes, der seine eigene und fremde Freiheit über alles liebte, auch über sein eigenes Leben! Rafft euch zusammen! Es ist noch nicht zu spät!

Ryszard Siwiec, am 7. September 1968

Am 8. September 1968 hat sich aus Protest gegen die Teilnahme der polnischen Truppen an der Okkupation der Tschechoslowakei der 59-jährige Beamte Ryszard Siwiec auf dem Warschauer Stadion des Jahrzehnts mit Lösungsmittel begossen und angezündet

Ryszard Siwiec ist am 7. März 1909 im galizischen Dębice geboren, das seinerzeit zu Österreich-Ungarn gehörte. Die Familie ist Anfang der zwanziger Jahre nach Lemberg gezogen, wo Ryszard nach Absolvierung des Gymnasiums sein Wirtschaftsstudium an der Philosophischen Fakultät der Johann Kasimir-Universität abgeschlossen hat. Seit Mitte der dreißiger Jahre arbeitete Siwiec als Beamter in Finanzamt in Prömsel. Als der Westteil Polens von der deutschen Armee besetzt wurde, hat er sich entschieden, das Amt zu verlassen, um nicht den Okkupanten zu dienen. Er arbeitete als Arbeiter, pflegte die Stadtgrünflächen. Er schloss sich der Widerstandsbewegung an. Nach dem Krieg wurde er zum Mitbesitzer eines Betriebs für Wein- und Honigproduktion. Nach der Betriebsverstaatlichung arbeitete er hier weiter als Buchhalter. Im Jahr 1945 hat Ryszard geheiratet und mit seiner Ehefrau Maria hatte er fünf Kinder.

Siwiec hatte eine ablehnende Position gegenüber dem kommunistischen Regime. Seinen Ansichten nach war er konservativ, seine Haltung ergab sich aus nationalen und christlichen Traditionen. An der Wand in seinem Haus hing ein Portrait vom Marschall Jósef Piłsudski, dem Gründer des modernen polnischen Staates und Sieger über Bolschewiken im Jahr 1920. Er liebte historische Romane, interessierte sich für die Geschichte des zweiten Weltkrieges und den heldenhaften Kampf des polnischen Untergrunds. Im Jahr 1968 beeinflussten ihn die Studentenproteste und ihre gewaltsame Unterdrückung. Nachts schrieb er unter dem Pseudonym Jan Polak Flugblätter zur Unterstützung der Streikenden. Anfang April 1968 hat er ein Testament verfasst, das seine Familie erst nach seinem Tod per Post bekam. Aus dem ersten Satz ist klar, dass er bereits zu dieser Zeit über einen radikalen Protest nachdachte. Endgültig hat er sich zur Selbstverbrennung nach der August-Okkupation der Tschechoslowakei entschieden, an der auch polnische Truppen teilgenommen haben. Genauso wie ein großer Teil seiner Landsleute betrachtete Siwiec diese Tatsache als nationale Schande.

Auf seine Tat hat er sich sorgfältig vorbereitet – er hat eine Botschaft auf Band aufgenommen, in der er die Sowjetunion wegen Imperialismus anklagte und sie dafür beschuldigte, den neuen Krieg entfesseln zu wollen. Er beschaffte sich eine Eintrittskarte für die Zentralfeier des Erntefests, die sich auf dem Stadion des Jahrzehnts mit der Anwesenheit der höchsten Partei- und Staatsführung der Volksrepublik Polen (PLR) abspielte. Dem kulturellen Programm haben etwa ein hunderttausend Menschen zugesehen, doch bei ihnen hat sein Protest nicht so eine Reaktion hervorrufen, die Siwiec vermutlich erwartete. Nachdem der brennende Siwiec gelöscht wurde, wurde er sofort weggebracht. Die Mehrheit der Zuschauer war über seine Tat sehr erschüttert. Im Krankenhaus wurde er von der Geheimpolizei bewacht und innerhalb von vier Tagen ist er gestorben. Von dem Ereignis zwar erfuhr die polnische Redaktion von Radio Free Europe, aber seine Leitung hielt den Bericht für nicht vertrauenswürdig. Erst danach, als sich Jan Palach verbrannte und die Münchner Redaktion wieder eine neue Beschreibung des ganzen Ereignisses aus Polen erhalten hat, wurde im März 1969 ein Bericht über die Selbstverbrennung in Warschau ausgestrahlt.

Im Jahr 1981 hat die Familie Siwiec eine Gedenkschrift herausgegeben, in der zum ersten Mal eine Transkription der Botschaft, die Ryszard Siwiec vor seiner Tat auf Band aufgenommen hat, publiziert wurde. Erst Anfang der neunziger Jahre gelang es dem polnischen Regisseur Maciej J. Drygas, die Aussagen der Zeugen und Familie zu sammeln. Er verschaffte sich auch Archivmaterialien aus zeitgemäßer Ermittlung und fand die sieben Sekunden dauernde Aufnahme des brennenden Ryszard Siwiec. Im Jahr 1991 hat er das Filmdokument Hören sie mein Geschrei (Usłyszcie mój krzyk) gedreht und das Feature Das Testament vorbereitet. Es war vor allem Drygas Verdienst, dass Siwiecs Protest sowohl in Polen als auch im Ausland bekannt wurde. Im Jahr 2003 ist es den Archivaren im polnischen Institut Polski Instytut Pamięci Narodowej gelungen, neue Filmaufnahmen zu finden, die die Angehörigen der polnischen Geheimpolizei im Stadion des Jahrzehnts gedreht haben.

Ryszard Siwiec wurde post mortem auch allmählich mit der tschechischen, slowakischen und polnischen Staatsauszeichnung ausgezeichnet. Nach dem Jahr 1989 wurden auch in Warschau, Przemysly und Dębice Gedenktafeln als Andenken enthüllt. In Przemysly, wo Siwiec wohnte, ist eine Brücke nach ihm benannt. Im Jahr 2009 wurde in Prag nach ihm auch die Straße benannt, in der das Institut für das Studium totalitärer Regime (Institut pro studium totalitních režimů) seinen Sitz hat. Auf demselben Platz wurde dem Siwiec im Jahr 2010 auch ein Denkmal enthüllt.

Literatur: >>>

BLAŽEK, Petr – KAMIŃSKI, Łukasz – VÉVODA, Rudolf (eds.): Polsko a Československo v roce 1968. Ústav pro soudobé dějiny AV ČR – Dokořán, Praha 2006.

BLAŽEK, Petr: Ryszard Siwiec 1909–1968. IPN, Varšava 2010.

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DRYGAS, Maciej J.: Usłyszcie mój krzyk (Lista montażowa), In: Kwartalnik filmowy, č. 1 (1993), s. 44–59.

EISLER, Jerzy: Polski rok 1968. Instytut Pamięci Narodowej – Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, Warszawa 2006.

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KAMIŃSKI, Łuskaz: První živá pochodeň ve východním bloku. Ryszard Siwiec (1909–1968), In: BLAŽEK, Petr – EICHLER, Patrik – JAREŠ, Jakub a kol: Jan Palach ´69. FF UK – ÚSTR – Togga, Praha 2009, s. 115–127.

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TISCHNER, Józef: Myśmy tej śmierci nie przemyśleli, In: Kwartalnik filmowy, č. 1 (1993), s. 41–43.