Sándor Bauer
* 21. Februar 1952, Budapest
† 23. Januar 1969, Budapest
Meinen Eltern: liebe Eltern, Mutter und Vater. Ich bitte Euch um Verzeihung, falls ich manchmal für Euch kein braver Sohn war. Ich möchte leben, aber die Nation und die Proletarier brauchen jetzt meinen Körper bis zur Kohle abgebrannt. Liebe Oma und liebe Onkels, Cousinen und Cousins, Euch allen schicke ich eine Million Küsse: Sanyi
Sándor Bauer, am 20. Januar 1969
Am 20. Januar 1969 hat sich auf der Treppe des Nationalmuseums in Budapest aus Protest gegen die Okkupation der Tschechoslowakei, gegen die Anwesenheit der Sowjet-Truppen in Ungarn und als Unterstützung der Tat von Jan Palach der sechzehnjährige Lehrling, Sándor Bauer, mit Benzin begossen und angezündet.
Sándor Bauer ist am 21. Februar 1952 in der Hauptstadt der Ungarischen Volksrepublik geboren. Seinen Vornamen bekam er nach seinem Stiefbruder, den die Rote Armee am Ende des zweiten Weltkrieges verschleppt hatte und die Familie nie mehr sah. Im Jahr 1956 zerschossen sowjetische Panzer die Wohnung, in der die Familie Bauer wohnte. Aus politischen Gründen wurde Sándor nicht an einer fachspezifische Försterschule angenommen und schließlich hat er deshalb eine Ausbildung als Automechaniker gemacht.
Sándor Bauer las viel und diskutierte mit seinen Freunden über Politik. Dem ungarischen Historiker János M. Rainer zufolge, der die Archivdokumente über seinen Protest erforscht hatte, handelte es sich um „eine unausgeglichene Persönlichkeit, die sich stark mit der ungarischen Nation und ihrer Unabhängigkeit befasste“. Seine Tat hat er nach einem Bericht über die Selbstverbrennung Palachs durchgeführt. Dazu hat er sich auch in einem seiner Briefe bekannt, der an seine Mitschüler adressiert worden ist. Dem Text nach hielt er sich selbst anscheinend für einen Leninisten, der die gegenwärtige Form des sowjetischen Regimes als deformierte Form des kommunistischen Ideals beurteilt hat. Der zweite Brief war für seine nächsten Verwandten bestimmt, die er um Verzeihung bat. Für seinen Protest wählte er symbolisch einen ähnlichen Ort wie Palach – die Treppe vor dem Nationalmuseum im Zentrum Budapests.
Nach dem Eintrag der Polizei hat er sich am 20. Januar 1969 um 13 Uhr beim Eingang ins Museumsgebäude über der Gedenktafel, die dem ungarischen Dichter Sándor Petöfi gewidmet war, mit Benzin begossen und angezündet. In den Händen hielt er zwei ungarische Fahnen, lief auf der Treppe und rief verschiedene politische Parolen aus. Einige Passanten haben nach kurzem Hinterherlaufen den brennenden Jungen, dessen Kleidung fast vollkommen verbrannte, eingeholt und ihn mit ihren Mänteln gelöscht. Nach der Aussage eines Augenzeugen lehnte Bauer die Behandlung ab und hat über die Gründen für seine Selbstverbrennung gesprochen. Er erwähnte auch „den tschechischen Bruder, der dasselbe getan hatte“. Um Bauer herum hat sich allmählich die Menge von 200 bis 300 Personen versammelt. Um 13.20 Uhr ist ein Krankenwagen angekommen, den ein anwesender Polizist zu Hilfe gerufen hatte.
Der schwer verletzte Bauer wurde ins Militärkrankenhaus gefahren, wo ihn die Angehörigen der Geheimpolizei verhörten. Als er behauptete, dass er gegen die sowjetische Okkupation protestiert habe, wurde er am 22. Januar 1969 gleich im Krankenhausbett verhaftet. Einen Tag später ist der Junge gestorben. Die Geheimpolizei hat die Eltern gezwungen, das Begräbnis am 28. Januar 1969 unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu organisieren. Sie hat auch seine Freunde gründlich verhört, zwei von ihnen wurden bis März 1969 strafverfolgt und zwar auf Grund angeblicher Nichtanzeige einer Straftat. Die Polizei hat seine Privatsachen, sein Tagebuch und seine Abschiedsbriefe beschlagnahmt. Das ungarische Presseamt hat am 22. Januar 1969 einen kurzen Bericht erstattet, in dem ohne nähere Details mitgeteilt wurde, dass es sich um eine Tat eines psychisch kranken Menschen handelte, die nicht mit der Politik zusammenhängt. Basierend auf diesem Bericht informierte über den Fall auch die tschechoslowakische Presse.
Bis Ende achtziger Jahre hat man in Ungarn von Sándor Bauer nicht in der Öffentlichkeit gesprochen und seine Tat ist fast in Vergessenheit geraten. Erst im Jahr 1989 hat der Regisseur Zsolt Balogh über Bauer einen dokumentarischen Spielfilm gedreht, für den die Aussagen seiner Freunden und Augenzeugen verwendet wurden. An der Stelle seines tragischen Protests wurde im Jahr 2001 die Gedenktafel enthüllt. Im Jahr 2011 wurde nach Bauer dann eine von den Straßen in Budapest benannt.
Literatur: >>>
HRADILEK, Adam (ed.): Za vaši a naši svobodu. Torst – ÚSTR, Praha 2010.
EISLER, Jerzy: Polski rok 1968. Instytut Pamięci Narodowej – Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, Warszawa 2006.
KAMIŃSKI, Łuskaz: První živá pochodeň ve východním bloku. Ryszard Siwiec (1909–1968), In: BLAŽEK, Petr – EICHLER, Patrik – JAREŠ, Jakub a kol: Jan Palach ´69. FF UK – ÚSTR – Togga, Praha 2009, s. 115–127.
Filmové dokumenty
1968, režie Zsolt Balogh, 1989, 85 min.
Smrt v plamenech 1969, režie Tamás Horváth, 2002, 26 min.